Lesungen und Gespräche finden aus gegebenem Anlass als einstündige Einzelveranstaltungen statt – unter freiem Himmel, an schönen Orten, die meist fußläufig oder mit dem Fahrrad gut zu erreichen sind. Aus organisatorischen Gründen sind Eintrittskarten erforderlich. Bitte im Vorverkauf erwerben! Bei mehreren Veranstaltungen Rabatt. Tageskasse nur bei Restkarten.
Shida Bazyar Drei Kameradinnen. Roman. Kiepenheuer & Witsch. Köln, Apr 2021
Volker Braun Große Fuge. Gedichte. Suhrkamp. Berlin, Mai 2021
Mara-Daria Cojocaru Buch der Bestimmungen. Gedichte. Schöffling & Co. Frankfurt a. M., Jul 2021
Nava Ebrahimi Der Cousin. Ingeborg-Bachmann-Preis 2021 (45. Tage der deutschsprachigen Literatur Klagenfurt 2021)
Jenny Erpenbeck Kairos. Roman. Penguin. München, 30. Aug 2021
Dana Grigorcea Die nicht sterben. Roman. Penguin. München, Mrz 2021
Dinçer Güçyeter Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte. Elif. Nettetal, Mai 2021
Martina Hefter In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen. Gedichte. kookbooks. Berlin, Jun 2021
Monika Helfer Vati. Roman. Hanser. München, Jan 2021
Michael Köhlmeier Matou. Roman. Hanser. München, 23. Aug. 2021
Jo Lendle Eine Art Familie. Roman. Penguin. München, 30. Aug 2021
Matthias Nawrat Reise nach Maine. Roman. Rowohlt. Hamburg, 20. Jul 2021
Sharon Dodua Otoo Adas Raum. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., Feb 2021
Ulrich Peltzer Das bist du. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., Feb 2021
Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein. Roman. Suhrkamp. Berlin, 12. Sep 2021
Mithu Sanyal Identitti. Roman. Hanser. München, Feb 2021
Ferdinand Schmalz Mein Lieblingstier heißt Winter. S. Fischer. Frankfurt a. M., Jul 2021
Elke Schmitter Inneres Wetter. Roman. C. H. Beck. München, Jul 2021
Nadine Schneider Wohin ich immer gehe. Roman. Jung und Jung. Salzburg, Jul 2021
Antje Rávik Strubel Blaue Frau. Roman. S. Fischer. Frankfurt a. M., 11. Aug. 2021
Ulrich Woelk Für ein Leben. Roman. C. H. Beck. München, Jul 2021
Die Autor:innen werden jeweils in der Regel zwei Mal an verschiedenen Orten eine halbe Stunde aus ihren Neuerscheinungen lesen und anschließend mit verschiedenen Poetenfest-Moderator:innen sprechen.
Die Revue der Neuerscheinungen
Inneres Wetter
Es kann kein Zufall sein, dass die Mehrheit der insgesamt 21 Auserwählten für die „Revue der Neuerscheinungen“ Autorinnen sind, die mit ihren Büchern eine Welthaftigkeit in die deutschsprachige Literatur tragen, die Aufsehen erregend ist. Was Shida Bazyar, Nava Ebrahimi, Nadine Schneider, Sharon Dodua Otoo, Mithu Sanyal oder Dana Grigorcea – mögen sie noch so unterschiedlich sein – miteinander verbindet, ist die deutsche Sprache, obwohl sie von anderen Kulturkreisen geprägt sind. Und: Sie machen um deutsche Gegenwartsfragen keinen Bogen. Sie bauen in ihrer Literatur auf eigene biografische, politische und historische Erfahrungen und erweitern somit den Blick auf unser Leben in einer immer komplizierter werdenden Welt.
Der Reihe nach: Shida Bazyar ist die Tochter von politischen Aktivisten, die vor der islamischen Revolution aus Teheran nach Deutschland flohen. Sie wolle nicht „wie gewohnt, aus einer weißen Linse heraus“ auf Missstände in Deutschland schauen, sondern durchaus in der Tradition orientalischen Erzählens, aus einer „migrantisierten Perspektive“. „Die Kameradinnen“ heißt ihr zweiter Roman (Sa, 15:30 Uhr, Bürgertreff Die Villa und 17 Uhr, Stadtmuseum Innenhof). Nava Ebrahimi, in Teheran geboren, aufgewachsen in Köln, Journalistin und Volkswirtschaftlerin, heute wohnhaft in Graz, ist die diesjährige Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises. Auch ihr Text „Der Cousin“ handelt von einer Flucht und der Überwindung von Sprachlosigkeit. Hauptfiguren sind ein Tänzer und eine Schriftstellerin, die sich in ihren jeweils unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen von der Vergangenheit lostanzen und losschreiben wollen (Sa, 15:30 Uhr, Burgberggarten und 18:30 Uhr, Villa an der Schwabach).
Dana Grigorcea, in Bukarest geboren, studierte in Brüssel und lebt mit ihrer Familie in Zürich. In ihrem jüngsten Roman „Die nicht sterben“ erzählt sie die Geschichte einer jungen Malerin, die nach dem Kunststudium in Paris, der Familiengeschichte auf der Spur, in ihre Heimat, die Karpaten, an der Grenze zu Transsilvanien zurückkehrt. Dort muss sie erkennen, dass die Folgen des Kommunismus noch längst nicht überwunden sind, der Untote immer noch sein Unwesen treibt ... (Sa, 14 Uhr, Stadtmuseum Innenhof und 17 Uhr, Kulturpunkt Bruck). Sharon Dodua Otoo, in London als Tochter von ghanaischen Eltern aufgewachsen, lebt, recherchiert und schreibt seit 2006 in Berlin. Ihr atemberaubender Roman „Adas Raum“ erzählt eine äußerst perspektiven- und kurvenreiche, experimentierfreudige, Jahrhunderte übergreifende Geschichte, in der Gott eine Frau ist! (Sa, 14 Uhr, Villa an der Schwabach und So, 14 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Sasha Marianna Salzmann, geboren in Wolgograd, aufgewachsen in Moskau, seit Mitte der neunziger Jahre in Deutschland, arbeitet heute als Autor*in am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. „Im Menschen muss alles herrlich sein“ handelt vom Zerfall der Systeme, im Osten wie im Westen, von der Mühsal des Umbruchs, von Täuschungen und Enttäuschungen, die einen zeitlebens nicht loslassen (So, 15:30 Uhr, Bürgertreff Die Villa und 18:30 Uhr, Villa an der Schwabach). Dies trifft in gewisser Weise auch auf die Prosa von Nadine Schneider zu, deren Eltern aus dem Banat stammen; sie selbst ist in Nürnberg geboren. Ihr neuer, mit leisen poetischen Mitteln erzählter Roman „Wohin ich immer gehe“ handelt von den schicksalhaften Folgen des Zusammenbruchs einer Diktatur für denjenigen, der rechtzeitig das Weite suchen konnte, und für den, der geblieben ist (Fr, 16 Uhr, Burgberggarten und 18 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Wie man nach dem Zusammenbruch eines Landes, eines politischen Systems, dem Verlust aller Gewohnheiten auch persönlich voneinander nicht lassen kann, das ist die Geschichte, die Jenny Erpenbeck in ihrem neuen Roman „Kairos“ erzählt. Es ist eine obsessive Liebesgeschichte vor einer Kulisse, die Aufbruch verspricht, aber dieses Versprechen nicht halten kann (Sa, 14 Uhr, Burgberggarten und 17 Uhr, Villa an der Schwabach).
Mithu Sanyal, indisch-polnischer Abstammung, wuchs in Düsseldorf auf und gilt als eine der temperamentvollsten, für viele auch radikalsten Kulturwissenschaftlerinnen im Land. Umso gespannter darf man auf die Lesung aus ihrem ersten Roman „Identitti“ sein. Im Zentrum steht eine Professorin, die sich rühmt, stets die erste Geige zu spielen, wenn es um Identität, Sexualität und Selbstbestimmung geht. Wie Mithu Sanyal diese Themen literarisch in den Griff bekommt, das ist nicht nur äußerst intelligent, sondern auch höchst unterhaltsam (So, 14 Uhr, Bürgertreff Die Villa und 17 Uhr, Burgberggarten).
Von allen Autorinnen, die in diesem Jahr beim Poetenfest zu erleben sind, ist Antje Rávik Strubel sicher eine der literarisch erfahrensten. Sei es ein Roman über eine Flugzeugentführung, über Naturfreaks in einem Kanu-Camp, eine Vogelschutzinsel in der Ostsee, ein Liebesreigen in finnischer Kälte oder wie jetzt – in ihrem neuen Roman – über die Folgen nach einem sexuellen Übergriff. „Blaue Frau“ ist ein Roman, der „von den ungleichen Voraussetzungen der Liebe“ erzählt, „den Abgründen Europas und davon, wie wir das Ungeheuerliche zur Normalität machen“ (Fr, 16 Uhr, Stadtmuseum Innenhof und 18 Uhr, Burgberggarten).
Überlebenswille – Selbstbehauptung – dies sind Attribute, die der reichen Romanwelt der in Vorarlberg lebenden Autorin Monika Helfer eigen sind. Unvergessen die anrührende Dorfgeschichte der Maria Moosbrugger, die ihre Schönheit verwegen in Szene setzt, um ihre Familie zu retten – und ihre eigene Würde. Unvergessen die Lesung aus „Die Bagage“ letztes Jahr beim Poetenfest. Im Gespräch hatte sie es angedeutet: Ja, es soll eine Fortsetzung geben. Und die ist jetzt da. In „Vati“ geht es um die eigene Kindheit. Eine Kindheit, die von Einsamkeit, aber auch von Büchern geprägt ist und nachempfinden lässt, wie Monika Helfer zum Schreiben gekommen ist (So, 15:30 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Was starke Frauenfiguren betrifft, so müssen wir auch Elke Schmitter nennen. Für den „Spiegel“ recherchiert und schreibt sie mit harten Bandagen. Als Erzählerin ist sie ganz bei sich. Ihr neuer Roman „Inneres Wetter“ ist eine Familiengeschichte, in der alle um ihre Identität ringen, sich behaupten wollen gegen das Vergehen der Zeit, das Versiegen der Kräfte, die Schwester, der Bruder, der verwitwete Vater (So, 15:30 Uhr, Kulturpunkt Bruck und 18:30 Uhr, Burgberggarten).
Über die Zeit des Selbsterlebten hinausgehen, mehrere Jahrhunderte in einem Roman ausbreiten, ausweiten, auffächern – das können in der deutschen Gegenwartsliteratur nur wenige. Einer ist Michael Köhlmeier. Aber kann ein Autor mehr als ein Opus magnum in seinem Leben schreiben? Michael Köhlmeier hat mindestens zwei Romane verfasst, die sich dieser Ehrung kaum widersetzen dürften: „Abendland“, beim Poetenfest 2007 vorgestellt, und jetzt „Matou“ – nicht nur der Seitenzahl wegen, sondern aufgrund der Weitläufigkeit und Schwerelosigkeit. Der Ich-Erzähler kommt auf leisen Sohlen daher. Es ist ein blitzgescheiter Kater, der vorgibt, seine Memoiren zu schreiben (So, 17 Uhr, Bürgertreff Die Villa).
Keineswegs auf leisen Sohlen, eher vibrierend vor Lebens- und Liebeslust treibt sich ein junger Mann durch eine an sinnlichen wie intellektuellen Reizen schier überbordende Stadt umher. Es ist das Berlin der frühen achtziger Jahre, durch die Ulrich Peltzer seinen Lebenskünstler in seinem an Abenteuern reichen Bildungsroman „Das bist du“ schickt, treibt, schiebt (So, 15:30 Uhr, Burgberggarten und 18:30 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Und bei Ulrich Woelk, auch er ein Erzähler, der sich von Roman zu Roman mehr als einer der hervorragenden Realisten erweist, ist es ein halbes deutsches Jahrhundert, ausgehend von den Jahren 1989/90, durch das er seine miteinander verbundenen Figuren auf verschlungenen Wegen schickt. Vor allem Niki, die taumelnde Hauptfigur in „Für ein Leben“ ist es, die die Leserinnen und Leser über 600 Seiten hinweg in Atem hält, mit ihren Lebensentwürfen, ihren Experimenten, ihren Ansichten, Fehlschlägen, Träumen (So, 14 Uhr, Villa an der Schwabach und 17 Uhr, Kulturpunkt Bruck).
Durch Jahrzehnte deutscher Geschichte schickt auch Jo Lendle seine sich findenden und wieder verlierenden Figuren. Es ist nur „Eine Art Familie“, ja mehr noch – oder weniger – eine von Zufällen determinierte, vom Zerbröckeln und Auseinanderdriften gefährdete Einheit, die Familie zu nennen im vorliegenden Buch zumindest reine Illusion wäre. Schreibend, erzählend zusammen zu halten, was im wirklichen Leben nicht möglich war, das ist es, was Jo Lendle zu seinem eindringlichen, autobiografischen Roman angestiftet hat (Sa, 15:30 Uhr, Villa an der Schwabach und 18:30 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Eine Anstiftung war es auch, die dazu führte, dass ein Sohn – Schriftsteller von Beruf – mit seiner Mutter eine Reise in die USA unternimmt. Dass sie aus Osteuropa stammt, ist kein Zufall. Auch der Autor ist polnischer Herkunft. Als Zehnjähriger emigrierte er mit seiner Familie nach Bamberg. Matthias Nawrat erzählt in „Reise nach Maine“ die Geschichte einer turbulenten Mutter-Sohn-Beziehung mit zahlreichen Wendungen. Es geht aber auch um eine Zeit, da Donald Trump gerade Präsident geworden ist und Amerika die Reisenden nicht mehr unbedingt als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ in einen Glückstaumel versetzt (Sa, 15:30 Uhr, Kulturpunkt Bruck und 18:30 Uhr, Burgberggarten).
Was wäre die „Revue der Neuerscheinungen“ ohne Debüts! Entschieden haben wir uns für den glühendheißschockgefrosteten Roman des Grazer Schriftstellers Ferdinand Schmalz, seines Zeichens Ingeborg-Bachmann-Preisträger des Jahres 2017. Er ist es, der wohl zum ersten Mal in der Literaturgeschichte einen Tiefkühlproduktelieferanten als Hauptfigur auserkoren hat. Hinter aller Skurrilität verbirgt sich in „Mein Lieblingstier heißt Winter“ beißende Gesellschaftskritik (Sa, 17 Uhr, Bürgertreff Die Villa und So, 17 Uhr, Villa an der Schwabach).
Hajo Steinert
Der Dichter und Dramatiker Volker Braun evoziert in seinem Gedichtbuch „Große Fuge“ den Zustand einer im Corona-Jahr 2020 zutiefst verstörten Gesellschaft. Was daran verblüfft und fasziniert, ist die stilistische Souveränität, mit der er das Thema in seine weit aufgefächerte Bildwelt zwischen antiker Mythologie und marxistisch gefärbtem Geschichtsdenken integriert (Sa, 15:30 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Mara-Daria Cojocaru setzt ihre subtile Form des „Nature Writing“ mit ihrem neuen Gedichtband „Buch der Bestimmungen“ fort. In einer poetisch aufregenden Sprache wirbt sie für eine Nivellierung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier zugunsten eines gerechteren Umgangs mit allen Lebewesen. Wie kaum eine andere Dichterin der Gegenwart hat sie ein feines poetisches Bewusstsein für die Destruktivitätstendenzen der Spezies Mensch entwickelt (Sa, 17 Uhr, Burgberggarten).
Dinçer Güçyeter erprobt in seiner Dichtung die unterschiedlichsten Formen: den „Orient-Rap“ und die liedhafte Beschwörung der eigenen Herkunft ebenso wie das rhapsodische Langgedicht, den lakonischen Siebenzeiler und die fetzige poetische Epistel. In Gedichten, die direkt an die eigenen Eltern adressiert sind, werden im aktuellen Band „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ die Glücksmomente der Kindheit und die wilden Träume eines unreglementierten Lebens zum Leuchten gebracht (So, 17 Uhr, Stadtmuseum Innenhof).
Wir kennen die Poesie als ein Maskenspiel, es gibt aber auch Momente, da das lyrische Ich diese Masken abstreift und ganz ungeschützt über den Kern unseres Daseins spricht. Martina Hefter führt uns das eindrucksvoll vor. Ihr aktuelles Buch „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen“ bewegt sich zwischen den Sprechweisen des Gedichts und des Essays. Es kreist in spielerisch-assoziativer Form um die tastende Begegnung mit Naturstoffen und Pflanzen, die von Artenschwund und Zerstörung bedroht sind (So, 15:30 Uhr, Villa an der Schwabach).
Michael Braun