Mithu Sanyal: Identitti. Roman. Hanser. München, Feb 2021
Kann man Identität ablegen wie ein altes T-Shirt? Hm. Im Umkehrschluss müsste man sich dann auch eine bestimmte Daseinsform schneidern können und in sie hineinschlüpfen dürfen, wenn es gerade passt. Die 26-jährige Mixed-Race-Wonder-Woman Identitti, die im wirklichen Leben – falls es so etwas gibt – Nivedita heißt, denkt in ihrem Blog über Race und Gender nach. Die umtriebige junge Frau, die einen indischen Vater hat, gehört zur Gefolgschaft der charismatischen Professorin für Postkoloniale Theorie Saraswati und fühlt sich in deren provokativer akademischer Praxis zum ersten Mal aufgehoben. Als Vertreterin der People of Colour und Verfasserin des Standardwerks „Decolonize your soul“ verleiht Saraswati denen eine Sprache, die keine haben und setzt ihre studentischen Truppen auf die blinden Flecken der weißen Mehrheitsgesellschaft an. Ausgerechnet diese berühmte Frau scheint sich ihre Herkunft aber angeeignet zu haben. Skandal!
Inspirieren ließ sich Sanyal von dem Fall der vermeintlich schwarzen amerikanischen Aktivistin und Dozentin Rachel Dolezal, aber sie münzt das Ganze in „Identitti“ mit großem satirischem Geschick auf Deutschland um. Immer wieder mischen sich reale Personen der Zeitgeschichte unter ihr Romanpersonal. Im Nachwort erklärt die Autorin: „Identitätskämpfe sind Kämpfe um Fiktionen von Wirklichkeit.“ Mithu Sanyal, 1971 in Düsseldorf geboren, hat sich als Kulturwissenschaftlerin und Journalistin einen Namen gemacht und mehrere Sachbücher über weibliche Verletzlichkeit vorgelegt. Mit ihrem literarischen Debüt „Identitti“ trifft sie ins Herz unserer Debatten. Gewiefter kann man vom Heute nicht erzählen. (M. A.)